Eine Achterbahnfahrt im La Grande Course – Interview mit Jakob Herrmann

„Die Beine brennen, das Herz pumpt mit 190 Schlägen pro Minute. Im Mund der Geschmack von Eisen. Die Lungen kämpfen um jedes Millimol Sauerstoff und der Kopf läuft auf Autopilot. Die Komfortzone? Liegt irgendwo in einer anderen Galaxie. Doch zwischen totaler Erschöpfung und absoluter Glückseligkeit liegt ein schmaler Grat.“ Mit diesen Worten beschreibt Eva Hammächer im Buch Grenzgänger sehr treffend die Faszination des Wettkampf-Skibergsteigens – eine Art Sucht, welche Athleten sowie Material an die äußerste Belastungsgrenze bringt und wo der Grat zwischen totaler Erschöpfung und absoluter Glückseligkeit ein sehr schmaler ist.

Jakob Herrmann, seit vielen Jahren im österreichischen Nationalteam und heuer unter den Top Favoriten bei Long Distance Rennen, kann ein Lied darüber singen, dass Skitourenrennen nichts für Weicheier sind, sondern man durch und durch ein (leidensfähiger) Alpinist sein muss. Wir haben mit Jakob über seine letzten drei La Grande Course (LGC) Rennen gesprochen, über Höhen und Tiefen und was im Leben wirklich zählt.

Skimo: Jakob, deine heurige Saison ist eine Achterbahnfahrt zwischen Top-Ergebnissen und Rückschlägen. Nach mittelmäßigen Platzierungen in den Weltcups und bei der EM konntest du hingegen bei den Long Distance Rennen richtig auftrumpfen und deine alpinen Stärken voll und ganz ausspielen. Was ist seit der EM Ende Februar passiert?

Jakob: Nach einer verpatzten EM in Sizilien bin ich direkt zum Altitoy Ternua in die Pyrenäen gereist, allerdings mit sehr gemischten Gefühlen. Ich wusste, dass ich in super Form bin, allerdings war ich nach dem Individual bei der EM, an dem ich leider nicht teilnehmen konnte, zu motiviert und gab am Anfang des Vertical Bewerbs zu viel Gas. Kurz vor dem Ziel war ich total erledigt und wurde vom ursprünglichen 7. Platz bis auf den 18. Platz durchgereicht. Am Vortag des Altitoy Rennens ging ich gemeinsam mit meinem Teampartner Kilian gemütliche 1.000 hm auf einen wunderschönen Gipfel und wir hatten beide von Anfang an ein super Gefühl für die bevorstehenden Renntage. Zweifel und Unsicherheiten konnten rasch beseitigt werden.

Altitoy Tag-2-Bild Sportdimontagna.com

Skimo: Gleich am ersten Tag habt ihr für eine kleine Sensation gesorgt und euch den Tagessieg geholt. Am zweiten Tag dann den Gesamtsieg. Wie hast du das Rennen erlebt?

Jakob: Wir haben gemerkt, dass wir bergauf den anderen Teams deutlich überlegen sind und konnten uns, wann immer wir wollten, von unseren Gegnern absetzen. Nur bei schwierigen Abfahrten wurden wir wieder eingeholt, da Kilian durch seine Schulter-OP nicht mit vollem Tempo und Risiko runterfahren konnte. Dennoch haben wir es geschafft, dass wir an beiden Tagen die Schnellsten waren und die Gesamtwertung gewinnen konnten. Aus österreichischer Sicht eine Sensation.

Skimo: Wie hast du die Stimmung wahrgenommen bei einem Rennen, bei dem dein Teampartner quasi Local-Matador ist?

Jakob: Es war einfach unglaublich! In den Pyrenäen ist Kilian noch bekannter als irgendwo sonst auf der Welt. Fans reisen kilometerweit an – nur für Kilian. Nach den zwei Siegen wurden wir medial von den spanischen und französischen Sendern gar nicht mehr losgelassen. Das war eine total neue Welt für mich. Normalerweise gehe ich mich nach dem Rennen noch aus, aber in diesem Fall war das nicht möglich, da wir erst einmal eine Stunde lang Interviews geben mussten. Im Anschluss haben wir uns aber gemeinsam Zeit für das Ausgehen genommen, haben das Rennen Revue passieren lassen und unsere Speicher wieder aufgefüllt.

Skimo: Zehn Tage und ein Alpencup Rennwochenende später, stand bereits die Pierra Menta vor der Tür. Mit welchen Erwartungshaltungen bist du nach Frankreich gereist?

Jakob: Nach dem ersten Gesamtsieg beim Altitoy sind wir natürlich als Favoriten-Team angereist. Diesen Status hat auch das mediale Interesse an uns bestätigt. Zeitungen und Magazine haben sich gemeldet und wollten einen Vorbericht über Kilian und mich machen. Auch wenn ich den Medienrummel in diesem Ausmaß bis dato nicht gewohnt war, war ich ziemlich relaxt und hatte größtes Vertrauen in Kilian und mich als Team. Ich wusste, dass wir einfach super zusammenpassen und alles gut gehen wird.

Skimo: Die erste Etappe der Pierra Menta ist nicht ganz so reibungslos gelaufen, wie erhofft. Wie seid ihr damit umgegangen?

Jakob: Gleich auf der ersten Etappe und im ersten Anstieg habe ich zwei Mal das Fell verloren. Dennoch konnten wir uns relativ rasch zurück an die Spitzengruppe Gachet/Bon Mardion und Boscacci/Antoniolli kämpfen. Im letzten Anstieg haben wir sogar die Führung übernommen und sind als erstes in die Abfahrtspassage gegangen. Leider stürzte Kilian – dennoch passierten wir als 3. Team die Ziellinie. Im Zimmer hat Kilian zu mir gesagt, dass wir die nächsten Tage richtig Gas geben müssen. Und als ich das Briefing für den nächsten Tag gesehen habe, war klar: der nächste Tag wird richtig lang! Perfekt für uns!

Skimo: Eine brutale Etappe am zweiten Tag endete mit dem sensationellen Tagessieg für euch.

Jakob: Das war ein Wahnsinn! Einfach zach! Wir konnten die Franzosen abhängen, doch die Italiener blieben uns ständig an den Fersen. Bergauf waren wir, wie bereits am Vortag, extrem stark. In der letzten Abfahrt haben wir dann aber doch noch eine Minute verloren. Durch den Sturz am Vortag von Kilian war er bergab extrem vorsichtig unterwegs. Aber wir konnten unsere Führung halten und sind knapp vor den Italienern als Erste ins Ziel. Für mich war es ein Wahnsinn. Tagessieg bei der Pierra Menta, Aufstieg auf Platz 2 in der Gesamtwertung und eine greifbare Chance auf den Gesamtsieg. Ein Traum ist in Erfüllung gegangen. Doch es sollte noch besser kommen!

PM2018-Tag-3-Bild-1-_-Bild-Helga-Koller

Skimo: Am dritten Tag kam es noch besser! Tagessieg und somit Führende in der Gesamtwertung. Mit dem Gesamtsieg zum Greifen nahe, was ging dir durch den Kopf?

Jakob: Mit einem starken Gefühl durch den Tagessieg am Vortag machten wir auch bei der dritten Etappe von Anfang an Druck und gaben ein hohes Tempo vor. Das ermöglichte uns, uns gleich nach 200 hm abzusetzen. Im Ziel hatten wir unseren Vorsprung auf über drei Minuten ausgebaut. Ein weiterer Tagessieg und somit Erster in der Gesamtwertung. Unglaublich! Es war angerichtet und alle wussten, dass Kilian und ich die Pierra Menta gewinnen werden!

Skimo: Und dann kam die vierte und letzte Etappe. Aus der Traum für das spanisch-österreichische Favoriten-Team. Was ist passiert?

Jakob: Wir waren super stark, gefühlt unschlagbar an diesem entscheidenden, letzten Tag der Pierra Menta. Tag 4 und wir setzten uns wie an den vorangegangenen Tagen bergauf von Anfang an immer weiter ab. Bergab haben wir nichts riskiert, was dazu führte, dass wir von dem französischen Team immer wieder eingeholt wurden. Die Italiener waren schon deutlich abgeschlagen und stellten kaum noch eine Gefahr für uns dar. Ab der Hälfte holten wir noch einmal alles raus, setzten uns deutlich ab und hatten einen 2-minütigen Puffer für die vorletzte Abfahrt. Ich ging als Erster in die Abfahrt, gefolgt von Kilian. Doch plötzlich war Kilian weg, er kam einfach nicht aus dem Wald raus. Gefühlte fünf Minuten später war Kilian in Sicht. Er kam zu mir, sagte aber nicht viel. Ich half ihm beim Auffellen und wir machten uns bereit für die letzten 350 Höhenmeter im Aufstieg und einer finalen Abfahrtspassage von 500 hm. Trotz der Verzögerung durch Kilian bei der vorletzten Abfahrt waren die Franzosen und Italiener noch immer weit weg. Unglaublich, dachte ich mir! Diese Euphorie wurde allerdings rasch gebremst. Ich merkte, dass bei Kilian irgendetwas nicht stimmt. Er ging nicht mehr voll auf Zug. Wir blieben stehen und auf meine erneute Frage, ob tatsächlich alles stimmt, gab er zu, dass er Schmerzen im Bein hat, er aber weitergehen möchte. Nach weiteren 50 Höhenmeter wurde er aber immer langsamer, fing leise an zu stöhnen und fragte: „Jakob, how many meters to the top?“ Only 150 meters, Kilian. Come on! Kilian gab sein Bestes, aber es ging einfach nicht mehr. Er setzte sich hin, ich gab ihm eine warme Jacke und der größte Albtraum wurde war. Mit dem Sieg zum Greifen nahe, war der Traum vom Gesamtsieg bei der Pierra Menta vorbei. Ich verständigte die Rettungskräfte, während Team für Team an uns vorbeizog.

Skimo: Schließlich hast du die Ziellinie alleine überschritten. Welche Emotionen kamen in diesem schweren Moment in dir hoch?

Jakob: Nachdem Kilian von den Rettungskräften versorgt wurde, habe ich sein Material genommen und beschlossen, das Rennen alleine zu beenden. Ein letztes Mal die Stimmung der tausenden Zuschauer einfangen und genießen. Ich konnte es nicht fassen! Wir waren so knapp dran! Mir war bewusst, dass wir unter normalen Umständen das Rennen gewonnen hätten – aber ein Rennen ist eben erst im Ziel vorbei und nicht 150 Höhenmeter davor. Als ich die Ziellinie passierte, wusste ich nicht, ob ich weinen oder mich freuen soll, weil ich es so weit gebracht habe. Auch wenn es im ersten Augenblick ein Moment der Enttäuschung war, war für mich das wichtigste, dass es Kilian gut geht, er sich rasch von seinem Sturz erholt und bald wieder mit Ski auf den Berg gehen kann. In diesem Moment war das volle Ausmaß seines Sturzes noch unklar. Was auch immer während eines Rennens passiert: die Welt dreht sich weiter, es ist „nur“ ein Rennen und die Gesundheit steht immer an erster Stelle.

Pierra-Menta_Tag4-Bild Sportdimontagna.com

Skimo: Wie hast du die doch sehr intensive Zeit mit Kilian erlebt?

Jakob: Kilian ist mein absolutes Vorbild. Es ist bewundernswert, wie er mit den Medien und seinen Fans umgeht. Er nimmt sich immer Zeit für Interviews, Selfies, Autogramme und schafft es dennoch, sich voll zu fokussieren und vorzubereiten. An Kilian fasziniert mich, dass er total einfach lebt. Vom Material, seinem Lebensstil bis hin zum Essen. Er weiß, was er braucht, was ihm guttut und ist nebenbei auch noch super unkompliziert. Auch während der Rennen mussten wir uns nie abstimmen. Als Team haben wir perfekt harmoniert und haben bereits für das nächste Jahr beschlossen, dass wir wieder gemeinsam beim La Grande Course an den Start gehen.

Skimo: Nachdem Rückschlag musstest du dir einen neuen Team-Partner für die Tour du Rutor suchen. War es für dich sofort klar, dass du weitermachst?

Jakob: Zu Beginn habe ich mir über die Tour du Rutor gar keine Gedanken gemacht. Ich wollte einfach meine Ruhe haben, die Höhen und Tiefen der letzten Wochen verdauen. Ich wusste jedoch, dass ich an der Rutor teilnehmen will. Doch mit wem? Alle Topläufer hatten sich bereits zu Teams formiert. Nachdem auch Toni Palzer auf Grund eines wichtigen Termins absagen musste, war ich etwas down. Plötzlich hat mich Filippo Barazzuol angeschrieben und gefragt, ob wir gemeinsam bei der Tour du Rutor starten wollen. Im Bewusstsein, dass er bergauf nicht so stark ist, sondern er eher technisch und abfahrerisch top drauf ist, habe ich mich darauf eingelassen. Ich war einfach froh, dass ich einen Teampartner gefunden habe – oder er mich.

Skimo: Neues Team, neues Glück!

Jakob: Absolut! Filippo ist ein total netter Mensch, aber was das mediale Interesse anbelangt, genau das Gegenteil von Kilian. Trotz seiner Unbekanntheit kann er aber durch seine sympathische Art punkten und gewinnt viele Fans auf der Strecke. Ich schätze seine unkomplizierte Art – er ist ein total feiner Mensch und daher haben wir als Team sofort sehr gut zusammengepasst. Bei seinen Schwächen habe ich ihn unterstützt, wo es nur ging. Bergauf habe ich ihn am Seil gezogen und bergab gaben wir richtig Gas, ohne jedoch zu viel zu riskieren. Und so gelang es uns, Tag für Tag den 4. Platz zu sichern. Für einen Podiumsplatz waren wir bergauf leider zu schwach. Aber ich war mega happy über den 4. Platz, an den ich mir unter den Umständen gar nicht gewagt hatte zu denken.

Tour-Rutor_Bild Jakob Herrmann

Skimo: Wahnsinn, was für emotionale Moment. Da bekommt man eine Gänsehaut! Was steht in dieser Saison jetzt noch am Plan?

Jakob: Die Saison ist noch nicht zu Ende – ein paar Rennen stehen heuer noch an. Ich war zwar seit Wochen nicht mehr zu Hause. Aktuell trainiere ich im Monte Rosa Gebiet, freue mich auf die noch bevorstehenden Rennen und genieße die Zeit. Für kommendes Wochenende wurde ich von den Italienern eingeladen, am Finale des Coppa Italia teilzunehmen. Danach geht es zur letzten Station im Weltcup in Madonna di Campiglio in Italien, anschließend zur berühmt berüchtigten Patrouille des Glaciers. Und danach … hmmm … da wäre noch der Ötzi Alpin Marathon im 3er Team mit Mountainbike, Berglauf und Skitourengehen, den ich letztes Jahr mit meinem Team gewinnen konnte oder die Tour du Gran Paradiso. Ebenfalls ein 2er Teambewerb, wo es auf den Gran Paradiso auf über 4000m rauf geht. Es bleibt also weiterhin spannend!

Skimo: Vielen Dank Jakob, für die vielen persönlichen Einblicke! Wir wünschen dir alles Gute und viel Erfolg für die bevorstehenden Rennen.

La Grande Course

Long Distance Rennen zählen zu den anspruchsvollsten, aber auch schönsten, spektakulärsten und renommiertesten Rennen im Alpenraum. Steile Hänge, vertikale Couloirs, ausgesetzte Grate und technische Abstiege stellen Athlet und Material immer wieder aufs Neue auf die Probe. In Zweier- oder Dreier-Teams überwinden die Athleten oft bis zu 10.000 Höhenmeter (an bis zu vier Tagen) im Aufstieg und in der Abfahrt. Zu den bekanntesten Rennen zählen beispielsweise die Patrouille des Glaciers in der Schweiz oder der Pierra Menta (auch die Tour de France der Skibergsteiger genannt), wo sich das Who-is-Who der internationalen Szene misst. Besonders ist die Wertung: Nur die Grande Course-Schlussrangliste ist individuell, daher können Athleten an jedem Wettbewerb mit einem Kameraden ihrer Wahl teilnehmen, egal welcher Nationalität dieser angehört. Weitere Informationen zum La Grande Course unter www.grandecourse.com.

Weitere Bild- und Webberichte von Jakob Herrmann:

Altitoy Ternua:

Pierra Menta:

Tour du Rutor:

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