Die Pierra Menta – mehr als nur ein Rennen
Vier Tage hintereinander Höchstleistungen abrufen und mental stark bleiben. Fünf österreichische Athleten berichten über den spektakulären Wettkampf im Skibergsteigen.
Die Jubiläumsausgabe zum dreißigjährigen Bestehen des legendären Rennens fand heuer von 11. bis 14. März statt. Der kleine Ort Arêches-Beaufort in den französischen Alpen (Rhône-Alpes) stellte abermals ein Event der Extraklasse auf die Beine. Zahllose lokale Freiwillige sorgten für einen reibungslosen Ablauf, sowohl auf als auch abseits der Rennstrecken. Der Wettergott trug seinen Teil bei und so stand bei Sonnenschein und hervorragender Fernsicht dem Spektakel nichts mehr im Weg. Die Aufgabe der Athleten: auf vier aufeinanderfolgenden Tagesetappen, fünfzehn Gipfel und zahlreiche Grate verteilt ca. 10.000 hm im Anstieg und 10.000 hm in der Abfahrt bewältigen. Dass dieses Rennen die Teilnehmer an ihre physischen und psychischen Grenzen bringt, ist allseits bekannt, nicht umsonst gilt es unter Athleten als die „Tour de France des Skibergsteigens“. Trotzdem steigen die Teilnehmerzahlen jährlich kontinuierlich an, sodass die Veranstalter bei weitem nicht mehr allen Aspiranten eine Starterlaubnis erteilen können. Was dieses Rennen so einzigartig macht – darüber sind sich alle Athleten einig: spektakuläre Aufstiege im hochalpinen Charakter inklusive höchst anspruchsvollen Trage-bzw. Kletterpassagen, Abfahrten über extrem steile, teilweise vereiste Flanken, gemeinsames Freud und Leid im Team und die ekstatischen Zuschauer entlang der Strecke.
Elmar Tritscher (Teamkollege von Chris Mannel), der heuer bereits zum dritten Mal bei der Pierra Menta am Start war, bringt es auf den Punkt: „Unvergleichbar. Fast die komplette Streckenführung verläuft 4 Tage im alpinen Gelände“. Thomas Koller, der heuer bereits zum zweiten Mal aber mit neuem Partner (Reinhard Hofer) bei der Pierra Menta startete, bestätigt: „Es ist ein richtiges hochalpines Abenteuer. Bei uns in Österreich gibt es ja leider fast nur noch Rennen auf der Piste.“ Auch der Nationalteamathlet Jakob Hermann fällt ein äußerst positives Urteil: „Privat würde ich keine schönere Skitour gehen.“
Nationalteam
Das österreichische Nationalteamduo Martin Weißkopf und Jakob Hermann erreichten bei ihrer ersten gemeinsamen Pierra Menta den 12. Platz, und sind somit beste Österreicher. Hermann ist mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden: „Leider war ich vor dem Rennen krank und konnte deshalb nicht mein volles Leistungspotential ausschöpfen. Top 10 wäre definitiv das Ziel gewesen.“ Nächstes Jahr wollen die beiden wieder an den Start gehen mit dem erklärten Ziel die Top 5 zu knacken.
Risiko im Wettkampf
Ein hochalpines Rennen, wie es die Pierra Menta ist, birgt naturgemäß ein höheres Risiko für die Athleten als ein Rennen im gesicherten Skiraum. Die Veranstalter minimieren das Risiko so weit wie möglich. Ein eigener Meteorologe startet um vier Uhr morgens mit den ersten Wetter-und Schneedeckenprognosen für den Renntag, gleichzeitig starten 30 Vorläufer um die Strecke zu spuren und über 800 Orientierungsfähnchen zu stecken. Die Athleten sind verpflichtet eine komplette Kletter-, Sicherheits-und Erste Hilfeausrüstung im Rucksack mitzuführen, zudem müssen sie sich stets in der Nähe ihres Partners aufhalten um im Fall der Fälle auch Rettungsmaßnahmen initiieren zu können.
Trotzdem bestätigen einige Athleten, dass ein solches Rennen auf Grund von Sicherheitsaspekten in Österreich nicht durchführbar wäre, denn – so Tritscher – würde ein Sturz bei manchen Abfahrten wirklich fatale Folgen haben. Aber die Athleten sind sich dessen bewusst und so findet man unter den mehr als 200 Teams so gut wie keine „unerfahrenen Leute“. Aber auch erfahrenen Sportlern kann auf Grund der hohen Belastung über die vier Tage ein Fehler unterlaufen. So zum Beispiel auch passiert auf der vierten und letzten Etappe. Der Aufstieg zum Grat, der zum Gipfel des Grand Mont führte, erwies sich für einige Athleten als ein schwer bewältigbares Hindernis. Zahlreiche Spitzkehren mussten auf einer ca. 45° steilen Flanke auf harter Unterlage bei teils schlechter Spur bezwungen werden. Tritscher beobachtete wie ein Athlet schlicht und einfach den Halt verlor. Er nahm dann bei seiner unfreiwilligen, 200 Meter langen Rutschpartie nicht nur seinen Teamkollegen, sondern auch noch ein anderes Team mit. Die 30. Edition der Pierra Menta verlief aber im Großen und Ganzen ohne schwere Verletzungen, wenn man von ein paar kaputten Knie und gebrochenen Schlüsselbeinen absieht.
Herausforderung für Mensch und Material
Auch die kürzeste und „einfachste“ (erste) Etappe wäre auf Grund des (technischen) Anspruchs in Österreich bereits ohne Zweifel ein sehr herausforderndes Eintagesrennen. Die Pierra Menta ist kein Zuckerschlecken, auch nicht für den Nationalteamathleten Hermann: „Das sind vier Tage konsequentes Durchbeißen, Gas geben. Schonen kann man sich später.“ Koller formuliert es etwas anders: „Am ersten Tag waren alle topfit. Aber ab dem zweiten Tag sind wir morgens am Start wie halbangeschossene Hunde da gestanden, aber der Startschuss fiel und wir sind trotzdem wie die Irren losgeplattelt.“ Eine „Kopfsache“ ist es sicherlich auch – so Tritscher, dass bei allen Etappen mehr Höhenmeter zu bewältigen waren, als von der Rennleitung angegeben wurde. Vor der Leistung der weiblichen Teams hat besonders Koller einen hohen Respekt: „Die Damen bewältigen Schwierigkeitsgrade in den Abfahrten, die sie im Training und auch bei anderen Wettkämpfen noch nicht erlebt haben, ohne sich auch nur ansatzweise darüber zu beschweren oder gar aufzugeben. Auch wenn sie durch den Leistungsunterschied am Ende des Feldes teilweise schwierigere Bedingungen vorfinden als die Topteams der Herren wie z.B.am Ende der dritten Etappe: Bei der letzten Abfahrt hatten nur die ersten 30-40 Teams genug Schnee, danach kamen nach und nach die Steine und Wurzeln heraus und damit verschärfte sich die Situation für die nachfolgenden Teams.“
Auf Grund dieses selektiven Wettkampfs ist es kein Wunder, dass die Teilnehmer während dieser vier Tage in einen sturen Rhythmus verfallen, der aus Rennen laufen, essen und schlafen besteht.
Tritscher, der als Verkaufsleiter für Dynafit, Pomoca und Silva in Österreich tätig ist, musste am zweiten Tag selbst erleben wie schnell man als Team durch einen Materialdefekt gleich einige Plätze nach hinten durchgereicht wird. Ein Stockbruch gleich zu Beginn der Etappe war der Grund dafür, den dadurch entstandenen Rückstand konnten die beiden dann auch im Laufe der Etappe nicht wirklich wieder wettmachen. „Das Material wird bei so einem Wettkampf immer wieder bis an, und manchmal dann eben über die Belastungsgrenze gebracht. Materialdefekte stehen bei der Pierra Menta auf der Tagesordnung, die wenigsten Teams blieben davon verschont, man sieht dort wirklich alles.
Entwicklung der Rennszene
Im Gespräch mit Tritscher, der heuer bereits zum dritten Mal an der Pierra Menta teilnahm (2001, 2007, 2015), kam ganz deutlich heraus, dass die Rennszene im Skibergsteigen in den letzten Jahren große Entwicklungen durchgemacht hat. Die Leistungsdichte der Athleten sowie der Athletinnen ist enorm gestiegen. „Früher hat es ein paar Mannschaften gegeben, die sich vorne abgesetzt haben, mittlerweile sind die Teams zeitmäßig dicht an dicht gedrängt, was früher noch Minuten waren sind jetzt zum Teil nur mehr Sekunden.
Der Teamgeist
Das Reglement erlaubt es, dass der Stärkere bei Tragepassagen die Ski des anderen zusätzlich zu den seinen trägt. Auch aus sicherheitstechnischen Überlegungen hat der Wettkampfmodus „Zweierteam“ klare Vorzüge. Dass das Wettkampfskibergsteigen im Team auch psychologische Auswirkungen hat, stellt Hermann klar: „Es ist einfach viel cooler zu zweit, aber auch viel intensiver, da man noch mehr ans Limit geht.“
Stimmung am Berg
Die Stimmung bei der Pierra Menta ist sensationell, was bei ca. 7000 Fans vor Ort kein Wunder ist. Das ganze Dorf befindet sich im Ausnahmezustand. „Bei jeder Wechselzone, bei jedem Gipfel bilden die Zuschauer ein Leitspalier. Sehr viele französische Fans hatten Startlisten dabei und haben uns Österreicher genauso namentlich angefeuert wie alle anderen Nationen. So etwas gibt es sonst nirgends“, erzählt Koller begeistert. Bei der Bergankunft am Grand Mont (2686 hm) waren laut Veranstalter ca. 4000 begeisterte Fans. Dazu muss gesagt werden, dass dieses Gebiet – sowie fast alle Bereiche der Rennstrecken – ausschließlich zu Fuß also entweder mit Skitourenski oder Schneeschuhen erreichbar ist. Koller berichtet auch von einem Pfarrer, der sich jeden Tag an einer besonders exponierten Stelle positionierte um jedem vorbeiziehenden Team ein kleines Lied mit der Mundharmonika zu spielen. Im Ziel ist der Empfang durch die Betreuer und die Mitreisenden für die Athleten besonders rührend. Die meisten, außer die Top 30, sind laut Koller einfach glücklich wieder eine Etappe gesund ins Ziel gebracht zu haben. Das erzielte Ergebnis steht in der Prioritätenliste definitiv einen Platz darunter.
Team „Wings for Life“
Ein ganz besonders Duo bildeten bei der heurigen Pierra Menta Michael Kurz und Helmut Eichholzer. Vor 16 Jahren, im März 1999, erlitt der damals sehr erfolgreiche Radfahrer und Skibergsteiger Kurz einen folgenreichen Sturz im Rahmen der Teilnahme an der Pierra Menta – genauer gesagt bei einer Abfahrt vom Grand Mont. Nur die professionelle Bergung der Bergrettung von Arêches-Beaufortund die erstklassige Behandlung im Universitätsklinikum Grenoble verhinderten eine komplette Querschnittslähmung im Bereich der Halswirbelsäule. Durch eisernen Willen und hartes Training findet Kurz wieder ins Leben zurück. „Ich versuchte alles um meiner Familie nicht zur Last zu fallen, denn ich war damals frisch verheiratet und hatte bereits eine einjährige Tochter. Als aller erstes musste ich wieder lernen selbstständig zu atmen.“ An eine weitere sportliche Karriere war damals nicht zu denken, aber es war der Sport, der ihn aus der Situation Stück für Stück wieder „heraus riss“. Nur zwei Jahre nach seinem Unfall nimmt Kurz an Wettkämpfen für Behindertensportler teil und wird im Sommer 2001 österreichischer Staatsmeister im Radrennfahren. Es folgen weitere zahlreiche WM und Paralympics Erfolge im Radrennfahren, Langlaufen und im Biathlon. Der Sport ist aber für Kurz auch Mittel zum Zweck, denn wenn er sich nicht regelmäßig bewegt, verschlechtert sich sein Krankheitsbild v.a. die Spastik rapide.
Aber die Pierra Menta hat ihn relativ bald wieder gedanklich verfolgt, denn „der Berg hat mich damals abgeschmissen und mein ganzes Leben durcheinander gebracht“. Verständlicherweise war seine Familie über eine erneute Teilnahme nicht begeistert. Ein neuerlicher Sturz wäre verheerend. Dann kam die Kooperation mit Eichholzer zu Stande, was Kurz selbst als „Glücksgriff“ bezeichnet. Obwohl sie sich vor dem Projekt nur über das Dynafit Team kannten, harmonierten sie beim Rennen. „Heli hat mich super unterstützt und sich richtig um mich gekümmert.“ Am 13.3. feiert Kurz seit seinem Unfall jedes Jahr seinen „zweiten Geburtstag“. Gerade deshalb war die dritte Etappe, die heuer auf den 13.3. fiel, eine besondere. „Am Start hatte ich richtig Angst, obwohl die Strecke gar nicht auf den ,Unfallsberg’ – den Grand Mont – führte. Als ich an dem Tag gesund im Ziel ankam war ich psychisch fix und fertig. Aber ich habe an dem Tag auch meinen Frieden gefunden. Ich habe das gefunden, wonach ich seit Jahren u.a. am Jakobsweg erfolglos gesucht habe. Der nächste Tag, die abschließende vierte Etappe, war ein Genuss für mich, obwohl es die anspruchsvollste Etappe war. Die Pierra Menta abzuschließen und den Berg zu bezwingen, ist mir so viel mehr wert als all die anderen Medaillen.“ Auch Eichholzer konnte im Ziel der vierten Etappe seinen Emotionen freien Lauf lassen. „Mit Michi sicher ins Ziel zu kommen und ihm somit zu helfen einen Abschluss zu dem Trauma zu finden war für mich ein hochemotionales Erlebnis. Trotzdem war ich sehr glücklich als der Druck der Verantwortung von mir gefallen ist, denn immerhin hatte ich das Projekt initiiert.“ Eichholzer möchte bei der 31. Ausgabe der Pierra Menta wieder an den Start gehen mit dem Ziel in die Top 20 zu gelangen. Tritscher, der mit dem Team vor Ort ein Zimmer teilte, spricht mit Hochachtung über Kurz: „Die Leistung vom Michi ist für mich gleichzusetzen mit der Leistung der Gewinner! “ Das Team „Wings for life“ wurde von ServusTV begleitet und die Geschichte wird im Rahmen des Formates „Bergwelten“ Anfang 2016 im TV zu sehen sein.
Die Ergebnisse aller österreichischen Teams:
Damen:
Michaela Feurle / Barbara Schafflinger (24.)
Herren:
Martin Weißkopf / Jakob Hermann (12.)
Markus Stock / René Fischer (29.)
Marc Hochstaffl / Andreas Jank (55.)
Thomas Koller / Reinhard Hofer (68.)
Hannes Oblasser / Georg Wurzer (71.)
Klaus Drexel / Andreas Neuper (84.)
Elmar Tritscher / Chris Mannel (104.)
Helmuth Ostermann / Alex Sillaber (124.)
Helmut Eichholzer / Michael Kurz (131.)
Autorin: Melanie Roth
Bilder: Helga Koller (danke für die Erlaubnis, diese verwenden zu dürfen)